Unerfüllte Erwartungen

Blaumeisennest

In der Übergangszeit zwischen Sommer und Herbst säubere ich normalerweise die Nistkästen. Bei den Meisen ist der Nestbau ein fixer Bestandteil des Fortpflanzungsverhaltens, deshalb muss der Kasten bis zum Frühjahr geleert werden. Es kann vorkommen, dass man beim Putzen einzelne Eier findet, die nicht bebrütet wurden. Die waren dann entweder unbefruchtet, oder die Zweitbrut wurde abgebrochen. Ich habe auch schon einen vertrockneten toten Jungvogel gefunden, der es nicht geschafft hat, aber noch nie fand ich ein verlassenes, vollständiges Gelege.

Blaumeisennest

Blaumeisen verzichten meist auf eine zweite Brut, dafür ist die Anzahl der Eier größer. Elf Stück sind trotzdem eine stattliche Zahl. So viele Eier findet man normalerweise nur in Laubwäldern, wo das Raupenangebot sehr hoch ist. Im Siedlungsgebiet sind die Gelegegrößen deutlich kleiner.

Für so einen kleinen Vogel wie die Blaumeise stellt das Legen der Eier eine nicht zu unterschätzende Belastung dar. Nur während dieser Zeit ist das Weibchen schwerer als das Männchen. Am Ende hat der Muttervogel deutlich mehr als sein eigenes Gewicht ins Nest gelegt. Die Blaumeise gibt ihrem Nachwuchs reichlich Proviant mit in das vergleichsweise große Ei.

Blaumeisenei mit Euromünze

Warum das Gelege verlassen wurde, kann ich nur vermuten. Vielleicht haben sich die Vögel verkalkuliert. Die Monate Mai und Juni waren dieses Jahr extrem trocken, das Nahrungsangebot war dadurch wahrscheinlich nicht so wie erwartet. Bei den Kohlmeisen hatte das aber keine Auswirkungen. Ihr Nistkasten sieht innen vorbildlich aus: Keine verlassenen Eier, nur etwas Vogelkot, der gegen Ende der Brut nicht mehr ausgeflogen wurde.

Nistkasten

Für die Population ist der Ausfall nicht tragisch, sie wird ihn verkraften können. Der Paarbeziehung tut so eine misslungene Brut allerdings nicht gut. Die Elternvögel, so sie nicht dem Sperber oder der Katze zum Opfer gefallen sind, werden sich trennen. Wenn nicht ausreichend Junge großgezogen werden, suchen sich die Meisen im nächsten Jahr andere Partner. Der nächste Frühling wird dem alten Nistkasten also neue Bewohner bringen.

Plötzlich erwachsen

Stieglitz Jungvogel

Ende Mai war bei uns die erste Stieglitzbrut flügge. Gewissenhaft haben die Vogeleltern ihren Jungen die Welt erklärt. Der ganze Trupp wurde in einem Obstbaum oder einem Strauch abgeladen, und die Jungtiere mussten lernen, sich ihr Futter zusammenzusuchen – immer unter dem wachsamen Blick eines der Elterntiere.

Anschließend gab es eine Einschulung, wie man der Reihe nach am Gartenteich trinkt, während immer mindestens einer Schmiere steht. Die Stieglitzfamilie kommt mehrmals am Tag vorbei. Wer mag, trinkt einen Schluck, aber bei der kleinsten Irritation sind alle weg. Am Teich sind sie vorsichtig.

Nach zwei, drei Wochen sind die Jungen erwachsen. Mich erstaunt jedes Jahr, wie schnell das geht. Kaum sind sie flügge, schon müssen sie allein zurechtkommen. Nur an der fehlenden roten Gesichtsmaske kann man sie noch von den Erwachsenen unterscheiden. Das Flauschige, Putzige haben sie abgelegt, und manche sind mittlerweile nicht nur selbständig, sondern auch deutlich mutiger als ihre Artgenossen.

Stieglitz Jungvogel

Vom Teichrand mögen die anderen trinken, dieser Jungvogel sitzt mitten drin auf den Seerosen. An dieser Stelle ist das Wasser einen halben Meter tief, aber das kümmert ihn nicht.

Dass Vögel im Turbogang heranwachsen, liegt an ihrem speziellen Stoffwechsel. Ihre Körpertemperatur liegt bei 42 Grad, und auch die Lungen sind deutlich leistungsfähiger konstruiert, sonst könnten sie den Körper nicht mit ausreichend Sauerstoff für den Flug versorgen.1 Die kleinwüchsigen Arten haben außerdem eine kurze Lebenserwartung. Während ein Papagei 90 Jahre alt werden kann, liegen vor dem jungen Stieglitz im Idealfall sieben bis acht Jahre, in denen er selbst für Nachwuchs sorgen kann.

Für die Eltern ist ihre Aufgabe dieses Jahr noch nicht erledigt. Sie gönnen sich nur kurz eine Pause. Auf den folgenden Bildern sieht man das Männchen rechts im Hintergrund. Es hat die kräftigere Färbung und die rote Gesichtsmaske reicht bis hinter das Auge. Aufmerksam behält es den Fotografen im Blick, während seine Partnerin trinkt.

Im Sommer ist das für die beiden ein seltener Moment der Zweisamkeit. Mittlerweile sind neue Jungvögel unterwegs. Stieglitze brüten oft zweimal pro Saison. Das müssen sie auch, denn nur wenige Tiere werden wirklich sieben oder acht Jahre alt. Da haben Sperber, Katzen und andere etwas dagegen.


  1. Der Unterschied im Metabolismus von Säugetieren und Vögeln findet sich sehr schön erklärt in: Josef. H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen, München 2019, S. 86-94 ↩︎

Morgengesang

Gartenrotschwanz

Den ersten Gartenrotschwanz registrierte ich im April 2019 über mir auf einer der Stromleitungen. Im Frühjahr kommen diese schönen Sänger aus Afrika zurück und teilen allen Verwandten, Bekannten und dem Rest der Welt lautstark mit, wo sie Quartier gefunden haben. 2019 war das einer unserer Nistkästen, in dem sie erfolgreich ihre Jungen aufzogen.

Das Pärchen ist nicht wiedergekommen, der Nistplatz blieb seither leer. Dieses Jahr haben sie einen anderen Platz in unserem Garten gefunden und mich ein bisschen geärgert, weil ich das Nest nicht orten konnte. Ich weiß nur, dass es ziemlich in der Nähe war, weil das vergleichsweise blass gefärbte Männchen jeden Tag seinen leicht monotonen, aber schönen Morgengesang über mir in die Gegend geschmettert hat.

Gartenrotschwanz

Die alten Stromleitungen eignen sich ja für alle Singvögel vorzüglich zum Telefonieren. Die finden es sehr praktisch, dass die Technik bei uns um Jahrzehnte hinterher hinkt.

Bei den Gartenrotschwänzen ist die Arbeitsverteilung klar: Das Männchen ist fürs Singen zuständig. Es verschwindet, sobald der Nachwuchs aus dem Nest ist, und überlässt die Erziehungsarbeit dem Weibchen. Mittlerweile können die Jungen vor der Katze warnen und sich selbständig ihr Futter suchen. Das Männchen hat seine Aufgabe erfüllt und wird erst im nächsten Jahr wieder seinen Morgengesang von der Stromleitung oder vom Dachfirst trällern.

Gartenrotschwanz

Mieterwechsel

Kohlmeise

Rund ums Haus haben wir mehrere Nistkästen, von denen drei regelmäßig besetzt sind. Den ersten hat mir vor über zehn Jahren das Naturhistorische Museum in Wien gekauft. Da hätte an der historischen Fassade eine Mauerseglerkolonie entstehen sollen. Der Plan fiel dann Bedenken wegen dem Vogeldreck zum Opfer, und so geriet einer der bereits besorgten Kästen über Umwege in meine Hände. Ein Kohlmeisenpärchen hat sich darüber sehr gefreut.

2017 haben Hausspatzen übernommen. Die sind quasi in feindlicher Absicht beim Nachbarn einmarschiert. So etwas würden wir Menschen ja nie machen, aber im Tierreich kann das schon einmal vorkommen. Die Kohlmeisen mussten 50 Meter weiter zu den Nachbarn ins Exil.

Vor ein paar Jahren hat mir dann eine andere Nachbarin einen Nistkasten geschenkt, dem ich eine für Kohlmeisen geeignete Öffnung verpasst habe. Diese Aktion war von Erfolg gekrönt. Zwei Jahre lang war alles perfekt aufgeteilt: Auf der Westseite brüteten die Hausspatzen, auf der Ostseite die Blaumeisen und hinten unter dem Schuppendach die Kohlmeisen.

Aber wie sagte dazu schon Tell in der hohlen Gasse bei Küssnacht: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Die Klassiker sind in ihrer Handlung ja recht vorhersehbar, und wahrscheinlich ahnt man schon, was ich gestern entdecken musste: Das Kohlmeisenweibchen flog mit dem Nistmaterial in die falsche Richtung, und so ist die schöne Ordnung bei unseren gefiederten Untermietern wieder über den Haufen geworfen.

Ich vermute ja, dass diese Wiedereroberung von langer Hand über Generationen hinweg vorbereitet wurde. Unsere Hausspatzen haben viele Jahre lang Cellophan für den Nestbau verwendet. Letztes Jahr war damit Schluss. Das alte Pärchen ist wahrscheinlich verstorben, und die Nachfolger haben nicht nur das Nistmaterial gewechselt, sie waren auch nicht so durchsetzungsfähig. Deshalb konnten ihnen die Kohlmeisen den besten Platz am Haus wieder wegschnappen.

Als Vermieter und Kontrollfreak aus Leidenschaft sieht man so etwas natürlich nicht gern. Wer wird im dritten Nistkasten einziehen? Oder habe ich jetzt zusätzlichen Leerstand? Dabei ginge es auch anders, wie man an den Blaumeisen sieht. Die brüten seit gut zehn Jahren ohne Unterbrechung und mit Erfolg auf der anderen Seite des Hauses. Hier zeigt sich, dass Kleinwuchs ein positives Selektionskriterium sein kann. Durch das enge Einflugloch der Blaumeisen schafft es keine der streitsüchtigen, größeren Arten, und so bleiben diese Bewohner ungestört. Schön, wenn manches im Frühjahr auch seinen gewohnten Lauf nimmt.

Im Nebel

Ich möchte nicht wissen, wie viele faszinierende Sichtungen mir schon entgangen sind, weil ich achtlos an ihnen vorbei gegangen bin. Es gibt aber auch Wildtiere an Orten, wo man nie mit ihnen rechnen würde. Heute Morgen ging ich beispielsweise durch den Rathauspark.

Hier ziehen jeden Abend die Eisläufer ihre Runden. Es ist einer der frequentiertesten Plätze in Wien. Was würde man hier vermuten? Amseln, Kohlmeisen, in der Nacht vielleicht die eine oder andere Maus oder Ratte. Wie wahrscheinlich ist es, an diesem Ort folgende Aufnahme zu machen?

Waldohreule

Die Waldohreule schläft tief und fest hoch oben in der Baumkrone. Mit dem freien Auge ist sie kaum zu erkennen, und auch das Teleobjektiv hat im Nebel Schwierigkeiten. Den Kontrast habe ich nachträglich hochgedreht. Was macht dieses faszinierende Geschöpf im Zentrum der Stadt?

Die Natur passt sich an. Zuerst folgen Mäuse und Ratten dem Menschen, dann ziehen ihre Jäger nach. Jede Nische wird genützt. Umso wichtiger ist, dass wir der Natur nicht dazwischen pfuschen. Jeder Kammerjäger, der in den städtischen Parks Köderboxen ausbringt, sollte wissen, dass er damit auch den Eulen ihr Futter vergiftet. Die meisten Rodentizide werden schwer abgebaut, sie reichern sich an und wirken irgendwann auch bei größeren Tieren, die sich von vergifteten Nagern ernähren. Außerdem ist diese Form der Schädlingsbekämpfung nicht nachhaltig. Mit der Zeit werden die Mäuse und Ratten nur resistent. Gescheiter wäre es, Turmfalken, Eulen und Steinmarder auch in der Stadt zu unterstützen. Sie erledigen den Job viel besser, weil sie von der Evolution seit vielen Jahrtausenden dafür optimiert wurden, ihre Beutetiere zahlenmäßig in Schach zu halten.