Nicht jeder läuft hier

Reh zwischen Gräbern

Der Wiener Zentralfriedhof ist schon etwas ganz Besonderes. Er ist mit 2,5 km2 und 330.000 Gräbern nicht nur einer der größten Friedhöfe Europas, sondern auch ein einzigartiges Naherholungsgebiet am Rande der Stadt. Man muss ihn nicht per Gesetz als Naturschutzgebiet definieren, er ist für alle Ewigkeit letzte Ruhestätte und blühender Lebensraum zugleich.

Laufroute am ZentralfriedhofDie Wildtiere haben den Zentralfriedhof genauso selbstverständlich „zweckentfremdet“ wie zahlreiche Jogger, die hier seit Jahrzehnten zwischen den endlosen Grabreihen ihre Runden drehen. Die Friedhofsverwaltung hat dem Rechnung getragen und im März zwei neue Laufstrecken mit GPS ausgemessen und beschildert. Die gut gemeinte Geste hat den Verantwortlichen eine Beschwerde der Volksanwaltschaft eingetragen. Dort steht man auf dem Standpunkt, der Friedhof müsste als „Parkanlage“ oder „Sportplatz“ und somit als „Erholungsgebiet“ ausgewiesen sein, um Laufstrecken anbieten zu dürfen. Streng nach Josef Weinheber: „War net Wien, wenn net durt, wo ka Gfrett is, ans wurdt.“

Der Zentralfriedhof ist nicht irgendein Friedhof. Es gibt eine eigene Buslinie und mit Genehmigung kann man sogar mit dem Auto zum Grabbesuch fahren, so groß ist das Areal. Bis in die 1980er Jahre war hier sogar ein Jagdgebiet. Heute laufen nur noch die Jogger. Die Rehe bleiben einfach stehen. Wo andere ihre ewigen Jagdgründe verbringen, ist längst auch die ewige Schonzeit eingekehrt.

Mir persönlich ist die Position der Volksanwaltschaft ja egal. Ich laufe nicht, ich fotografiere nur, und ein Grab mit meinem Familiennamen drauf gibt es natürlich auch – diesen Bezug zum „Zentral“ hat wahrscheinlich jeder Bewohner dieser Stadt. Aber eines muss ich als regelmäßiger Besucher schon anmerken: Von den Joggern hat sich noch kein einziges meiner Fotomotive aufscheuchen lassen. Die stören hier nicht einmal die Rehe, nur die Volksanwaltschaft. Aber die Wiener Mentalität ist halt auch für Ewigkeit.

AMA und die Inzest-Bauern

Am Wochenende bin ich im Standard über eine Werbung der Agrarmarkt Austria gestolpert, die ich hier gern kostenlos wiedergebe, weil sie viel darüber aussagt, worin das Dilemma unserer modernen Landwirtschaft und ihrer Vermarktung besteht.

AMA-Werbung im StandardDer unbekannte Werbetexter lässt darin seine Cousine Moni, eine Milchbäuerin, darüber schwadronieren, was sie so nervt: „Das mit unserer Kultur‘ [sic!] nämlich. Alle reden sie davon, und wissen gar nicht, was sie eigentlich damit meinen!“

Ich bin ein großer Fan vom Depperlapostroph in all seinen Varianten, und ohne s dahinter kannte ich es noch gar nicht. Außerdem war ich gespannt, was folgen würde: der übliche Mozart oder doch die Walzerseligkeit des Neujahrskonzerts? Worauf wollte die von der AMA ernannte Kulturexpertin hinaus? Vielleicht ein zeitkritisches Zitat der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin? – Nein, die Moni meinte natürlich das von ihr hergestellte Produkt:

„Denn die Milch zählt bei uns zu den angestammten, uralten Kulturgütern.“

Das weiß die Moni genau, schließlich hat sie den Hof von ihren Eltern übernommen. Apropos Familie, die ist natürlich auch ganz wichtig auf dem Land:

„Im Grunde ist das ganze Dorf eine einzige Großfamilie“, lacht die Moni, „auch die Viecher zählen dazu!“

Wie hat man sich das vorzustellen? Die spielenden Kinder auf dem Hauptplatz sind alle dem Großbauern wie aus dem Gesicht geschnitten, im Hintergrund schlurft der Dorftrottel durchs Bild, und der Genpool wird maximal dann aufgebessert, wenn die fahrenden Händler vorbei kommen und sich die Franzi am Heuboden ihrer erbarmt? Ich dachte, diese geschmacklose Variante des Dorfschwanks ist spätestens mit der Autobahnanbindung aus der Mode gekommen.

Aber die Moni muss es besser wissen, sie ist ja Kulturexpertin. Und sie hat noch mehr auf Lager:

„Frühling ist, wenn es frisches Gras gibt. Wenn es zum Almauftrieb geht, steht der Sommer vor der Tür.“

Anders lassen sich die Jahreszeiten auch kaum feststellen. In Zeiten des Klimawandels könnte man noch sagen, Winter ist, wenn man aus dem Fenster steigen muss, weil der Schnee bis zum ersten Stock liegt, und im Hochsommer, wenn der Mais auf den Feldern verdörrt, staubt es wie in der Wüste. Aber das ist neumodisches Zeugs so wie die deutsche Grammatik zum Beispiel:

„Milch und Milchprodukte sind ein wesentlicher Teil unserer Ernährung, vom Milchschaum im Melange [sic!] über den Oberskren bis zur Käseplatte.“

Ehrlich? Im Melange? Aufpassen! Die ist immer noch feminin. Es sind schon Leute für weniger aus einem Wiener Kaffeehaus geflogen. Aber kommen wir von der rauen Kultur der Großstadt zurück zur Postkartenidylle, wo sich die Moni am Ende ihres Vortrags ein Glas Milch gönnt. Wir können davon ausgehen, dass dieses nicht von der Alm kommt, sondern aus einem Stall, in dem eine Kuh neben der anderen angebunden steht, und zweimal am Tag wird die Melkmaschine angesteckt. Anders könnte die Moni nämlich nicht gewinnbringend wirtschaften angesichts der Tatsache, dass ihr die Molkereien seit Jahrzehnten nur um die 35 Cent pro Kilo Milch bezahlen (Quelle AMA).

Aber warum druckt der Standard als Qualitätszeitung eigentlich diese schwachsinnige Werbung? Im Gegensatz zu Österreichs Milchbauern bekommt er dafür ein angemessenes Honorar mit Preisgarantie. Woche für Woche finden sich Texte von ähnlichem Niveau auf Seite drei. Und nicht nur im Standard. Noch teurer ist die Fernsehwerbung der AMA, die seit zwei Jahrzehnten über unsere Bildschirme flimmert. Und die Agrarmarkt Austria finanziert nicht nur unsere Medien mit ihren Millionen, auch für die Wissenschaft fällt etwas ab. In ihren Inseraten kommt immer irgendein Universitätsprofessor zu Wort, der etwas von Kalzium, Inhaltsstoffen und gesunder Ernährung schwafelt. Und es ist komischerweise nie einer von denen, die darauf hinweisen, dass der Osteoporose-Anteil in China nicht höher ist als anderswo, obwohl die Mehrzahl der Chinesen keine Laktose verträgt. Im Inserat vom 30. März meint beispielsweise ein Prof. Dr. K., Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften der Universität Wien:

„Es gibt überhaupt kein Lebensmittel, das spezifisch für den Menschen da ist, außer seine eigene Muttermilch – und die enthält Laktose. Diese Thematik hat viel damit zu tun, dass wir uns heutzutage sehr stark auf unseren Körper fokussieren und einfach nicht mehr akzeptieren können, dass es gewisse Wehwehchen gibt, die einfach zum Leben dazugehören. Jedes Bauchzwicken muss inzwischen irgendein Ernährungsdrama sein. Echte Laktoseintoleranz ist seltener als häufig vermutet.“

Da können wir dem Herrn Professor gern widersprechen: Laut Wikipedia betrifft die Laktoseintoleranz 75% der erwachsenen Weltbevölkerung, im deutschsprachigen Raum sind es immerhin noch 15%. Und von Bauchzwicken kann auch keine Rede sein. Ohne das Verdauungsenzym Laktase wandert der Milchzucker in den Dickdarm und wird von den dort vorhandenen Bakterien verdaut. Die machen damit ähnliches wie die Hefe im Germteig mit der Stärke. Als Verdauungsprodukt entstehen Gase, unser Darm geht im wahrsten Sinne des Wortes auf wie ein Germteig, und das Ergebnis drückt es einem dann mit Hochdruck ins ebenfalls sprichwörtliche Kreuz hinauf. Shit happens. Und, nur damit das klar ist: Das ist kein Schauspieler-Professor wie der Typ aus der Zahnpastawerbung. Der steht im Vorlesungsverzeichnis. Den lassen sie an der Uni auf unsere studierenden Kinder los.

Fragt sich nur noch: Wer ist die AMA, was will sie, und woher hat sie das viele Geld, mit dem sie Werbung, Medien und Wissenschaft kaufen kann?

Die Agrarmarkt Austria ist eine GesmbH mit gesetzlichem Auftrag. Sie „verfolgt das Ziel, sachlich-objektiv und faktenbasiert über Rohstoffe für die Lebensmittelerzeugung und über die Lebensmittel an sich aufzuklären.“ Hauptinstrumentarium dieses Marketings ist das AMA-Gütesiegel:

AMA-Gütesiegel„Seit zwanzig Jahren kennzeichnet das AMA-Gütesiegel Nahrungsmittel mit besondere [sic!] Güte. Die Länderfarben und die Herkunftsbezeichnung erklärt [sic!] transparent, woher die Rohstoffe stammen. Alle Kriterien werden von unabhängigen Stellen kontrolliert.“

Die Rechtschreib- und Grammatikprüfung rennt jedenfalls nicht drüber, sonst müsste ich nicht ständig „[sic!]“ in die Zitate einfügen. Aber das sind halt Profis, die brauchen sowas nicht. Die machen auch den ganzen Tag nichts anderes als Marketing für Lebensmittel. Und wer bezahlt das ganze Tamtam?

„Finanziert wird die AMA-Marketing GesmbH zum überwiegenden Teil durch verpflichtende Agrarmarketingbeiträge von Landwirten und Verarbeitern, durch Gebühren der Lizenznehmer und durch EU-Mittel zur Unterstützung ausgewählter Marketingmaßnahmen. Entsprechend den EU-rechtlichen Beschränkungen werden die Marketingmaßnahmen vor ihrer Durchführung von der EU geprüft.“*)

Na, dann ist ja alles gut. Die Moni und ihre KollegInnen dürfen sich die Darstellung der dümmlichen Idylle auch noch zwangsweise selbst bezahlen – von den 35 Cent pro Kilo Milch. Dafür wird aber auch alles dreimal geprüft und mit Siegel versehen. Wissenschaftliche Expertise inbegriffen. Nur auf die Rechtschreibprüfung haben sie vergessen. Und dass wir längst eine andere Form der Landwirtschaft bräuchten, um die Feinstaubbelastung durch Gülle, die Bodenerosion und das Insektensterben in den Griff zu bekommen, erwähnt jetzt auch keiner extra. Hauptsache wir trinken brav unsere Milch. Ich hole mir jetzt gleich ein gutes frisches Glas – und dann schnell aufs Klo!

Meister der Unordnung

Frei nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik strebt ein geschlossenes System in der Natur immer Richtung Unordnung. Fällt ein Tropfen Tinte in ein Glas Wasser, schwebt er nicht als dunkle Kugel durch das Glas, sondern verteilt sich mit der Zeit im Wasser. Ebenso strebt ein Gegenstand oder eine Chemikalie immer den energetisch niedrigsten Zustand an: Eine Packung Reis, die uns aus der Hand gleitet, bleibt nicht in der Luft stehen, sondern fällt zu Boden und verteilt sich dort im ganzen Raum. Knallgas bleibt nicht lange stabil, das Gemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff verpufft und wird zu Wasser. Aus dem gleichen Grund rostet Eisen und verbrennt Holz: In der Natur strebt alles nach dem niedrigsten Energienivieau und dem höchstmöglichen Maß an Unordnung.

Und warum sind wir dann hier? Der menschliche Organismus ist überaus komplex. Wieso verknüpfen sich organische Moleküle auf derart vielschichtige Weise, dass daraus Leben entsteht?

Zunächst einmal ist die Erde kein geschlossenes System. Durch die Sonneneinstrahlung wird ihr ständig Energie zugeführt. Das ist aber noch nicht alles, denn auch Venus und Mars werden von der Sonne angestrahlt, trotzdem besteht ihre Atmosphäre zu weit über 90% aus CO2, wie aufgrund der physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten zu erwarten ist. Zur Energie kommen verschiedene günstige Bedingungen auf der Erde: Wasservorkommen, ein Magnetfeld, der Mond etc. Aber die wichtigste Ursache für die Entstehung komplexer Lebensformen ist das Vorhandensein von Leben selbst. Wir sind schlicht und einfach das Ergebnis der Evolution und des gegenseitigen Wettrüstens.

Irgendwann vor ungefähr 2,4 Milliarden Jahren etablierten sich die ersten Cyanobakterien auf der Erde. Durch ihre Fähigkeit zur Photosynthese bildete sich Sauerstoff und das erste große Artensterben wurde ausgelöst. Für die meisten damaligen Bakterien war Sauerstoff nämlich giftig.

An ihre Stelle traten neue Lebensformen, die die plötzlich in Form von Sauerstoff frei verfügbare Energie für sich nutzbar machten. Ihre Zellen enthalten kleine Kraftwerke, in denen Sauerstoff und Kohlenstoff miteinander reagieren, und dieser Mechanismus treibt uns alle an. Mit der Zeit hat sich dadurch in der Atmosphäre ein Anteil von 20% Sauerstoff etabliert. Das ist gerade genug Sauerstoff, um uns atmen zu lassen und gleichzeitig mögliche chemische Reaktionen in Grenzen zu halten. James Lovelock bezeichnet diesen Zustand als meta-stabil. Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Organismen erlauben einen Zustand höherer Ordnung. Das Geheimnis unserer Existenz liegt in dieser Kooperation.

Im Laufe der Evolution sind Lebewesen Symbiosen eingegangen und haben sich zu anderen Arten zusammengeschlossen. Dadurch sind immer komplexere Ökosysteme entstanden, die nicht zuletzt auch uns Menschen hervorgebracht haben. Von der durch physikalisch-chemische Gesetze definierten Unordnung hat das Leben die Erde in ein System äußerst komplexer Ordnung transformiert. Unter anderem wurde dabei durch die Photosynthese jede Menge CO2 aus der Atmosphäre entfernt und als Kohle, Erdöl oder Humus abgelagert. Obwohl sich die Strahlkraft der Sonne in den letzten 500 Millionen Jahren um 4% erhöht hat, ist durch diesen umgekehrten Treibhauseffekt die Durchschnittstemperatur auf der Erde deutlich zurückgegangen, was wiederum die Möglichkeiten des Lebens und die Artenvielfalt deutlich erhöht hat. Schritt für Schritt wurde das System Erde immer komplexer.

Bis wir ins Spiel kamen. Aus Sicht der Natur betrachtet, sind wir die Meister der Unordnung. Mit zunehmender Geschwindigkeit drehen wir die Zeitleiste zurück, vor allem weil unser Verständnis von Ordnung der natürlichen Komplexität zuwiderläuft. Werfen wir dafür einen kurzen Blick in unsere Gärten: Eine naturbelassene Wiese besteht aus hunderten verschiedenen Kräutern. Wald ist eigentlich eine vielfältige Mischung unterschiedlichster Baumarten mit dichtem Unterholz. Wie konträr ist das, was wir unter einem „ordentlichen“ Garten verstehen: Aus dem englischen Rasen ragen maximal vereinzelt Bäume und alles wird umrahmt von einer Thujenhecke. Nicht zu vergessen die dekorativen Steinaufschüttungen, die einzelne Bereiche sowieso zur Wüste verkommen lassen. Sobald sich der Mensch in die Natur gestaltend einmischt, wird alles wie ein Maisfeld – Monokultur in Reih und Glied. Naturbelassen hat für uns immer den Eindruck von Chaos, dabei ist es viel geordneter, ein komplexes System von Beziehungen, dessen einzige Unordnung darin besteht, dass wir zu wenig davon verstehen.

Unser Faible für das Destruktive geht aber noch weiter: Zu den kompliziertesten Lebensräumen, die wir hervorbringen, zählen die Städte. Ohne ein ausgefeiltes Sozialgefüge mit unzähligen Regeln wäre ihre Existenz unmöglich. Modernste Technik von klimatisierten Gebäuden bis zum öffentlichen Verkehr macht sie für uns lebenswert. Für die Natur sind sie aber nur versiegelte Fläche, eine lebensfeindliche Wüste, die im Sommer zunehmend unerträglich heiß wird. Außerdem liegen unsere Städte mit Vorliebe an einem Fluss in fruchtbarer Gegend. Wir transformieren humusreiches, wertvolles Ackerland in eine künstliche Felslandschaft, die für Kulturfolger nur deshalb interessant ist, weil ihre Fressfeinde fehlen. Was die Natur über Jahrmillionen mühsam geschaffen hat, dreht der Meister der Unordnung in großen Schritten wieder zurück.

Ein globaler Aspekt dieser Transformation erfährt im Moment große mediale Aufmerksamkeit: Alles spricht vom Klimawandel. Gleichzeitig trivialisieren wir das Problem und konzentrieren uns auf die fossilen Energieträgern. Die Politik verkauft uns unter dem Schlagwort Energiewende eine Patentlösung, die so nicht funktionieren wird, weil sie nur einen kleinen Aspekt der Thematik berücksichtigt. Für den CO2-Ausstoß ist der Humusabbau in der Landwirtschaft genauso mitverantwortlich wie das Abholzen unserer Wälder. Die Versiegelung der Böden durch Bautätigkeit fördert die Erderwärmung ebenfalls. All diesen Vorgängen gemeinsam ist, dass die Komplexität der Ökosysteme massiv abnimmt. Wo früher kleinteilige Strukturen mit hoher Artenvielfalt vorherrschten, findet sich heute ein menschengeschaffener, globalisierter Einheitsbrei. Aus unserer Sicht wird die Welt vielleicht immer komplizierter und vernetzter, aber aus Sicht der Natur treiben wir die Unordnung voran und damit die Zeit zurück.

Und was hat das alles in einem Gartenblog zu suchen? Gute Frage. Dieses Thema ist ein globales, und wir sind den Zusammenhängen vielfach ausgeliefert. Ich verstehe, dass es schwierig ist, den weltweiten Verzicht auf fossile Energieträger durchzusetzen, ohne gleichzeitig die Wirtschaft zum Erliegen zu bringen. Ich verstehe auch, dass Städte als Lebensraum für eine wachsende Weltbevölkerung immer wichtiger werden und dass die ökonomischen Rahmenbedingungen hier oft naturferne Strukturen erzwingen. Aber warum pflastern sich dann zusätzlich noch so viele Leute ihren Vorgarten mit Steinplatten zu? Damit der Klimawandel auch vor der Haustür Einzug hält? Jedes Blatt, das auf den Boden fällt und zu Humus wird, bindet einen Teil des Kohlenstoffs dauerhaft in der Erde. Warum muss man diesen natürlichen Vorgang sofort mit einem Laubsauger unterbinden? Damit das bisschen gebundene CO2 gleich wieder frei gesetzt wird? Irgendwann, wenn die Erde zur Wüste verkommen ist und bis zum Horizont nur Stein und Sand, wird der letzte Mensch im Schutzanzug vor die Haustür treten und sagen: Aber schön ordentlich ist es heutzutage schon.

Vielleicht wird das mit der Rettung der Welt nichts. Vielleicht reicht es aber auch, wenn wir in unserem unmittelbaren Einzugsbereich etwas dafür tun. Oder besser gesagt: nichts tun. Einfach mal die Zügel schleifen lassen. Nicht aufräumen. Nicht ständig Ordnung machen. Das Laub ruhig liegen lassen, den Rasen weniger oft mähen. Einfach nur zusehen und staunen, dass sich so viel von selbst regelt. Damit kann jeder in seinem Garten anfangen.

Und auch auf kommunalpolitischer Ebene würde man sich oft mehr Mut zum Wachsenlassen wünschen. Ein schönes Beispiel aus der Praxis habe ich neulich im Blog „GRUNDidee Naturgarten“ gefunden. Da geht es um ein Stück naturbelassene Straßenböschung und wie schwer es ist, die Ordnungswut aus unseren Hinterköpfen zu bekommen. Wir haben offensichtlich einen inneren Zwang zu gestalten, dabei muss Natur im Normalfall nicht gestaltet werden. Die ist schon geordnet. Was wir unter Ordnung verstehen, ist nur leider für die Natur Chaos – und umgekehrt. Es würde helfen, wenn wir dieses Missverständnis ein Stück mehr aus unseren Köpfen bekämen.


Lesetipps:

Lynn Margulis: Der symbiotische Planet, Westend: Frankfurt am Main 2017

Die englische Originalausgabe von „Symbiotic Planet“ ist bereits 1998 erschienen. Die 2011 verstorbene Evolutionsbiologin Lynn Margulis verknüpft darin Symbiontentheorie und Gaia-Hypothese zu einer kurzweiligen Erzählung über die Entstehung des Lebens auf der Erde. Das Buch beginnt mit den urförmigen Mikroorganismen, die sich symbiotisch zu komplexeren Lebewesen und Zellstrukturen zusammenschließen, und zeigt am Ende die Erde als großen Superorganismus, auf dem die verschiedenen Arten zusammenwirken. Unterbrochen wird die Darstellung immer wieder durch Anekdoten und Autobiographisches. Stilistisch passt das zu den frei fabulierten wissenschaftlichen Ausführungen, und man lernt so relativ kurzweilig Lynn Margulis‘ Forschungskonzepte kennen.

Ute Scheub, Stefan Schwarzer: Die Humusrevolution. Wie wir den Boden heilen, das Klima retten und die Ernährungswende schaffen, oekom: München 2017

Das Buch bietet eine Vielzahl an überzeugenden Beispielen, wie die Humusschicht durch unsachgemäße Bearbeitung abgetragen und andererseits auch wieder aufgebaut werden kann. Eine ausführliche Rezension findet sich auf Leselebenszeichen. „Die Humusrevolution“ ist, nicht zuletzt auch dank der zahlreichen Interviews, sehr überzeugend – bis auf Kapitel 7. Am Schluss wagen die Autoren einen positiven Blick ins Jahr 2050: Alles wird wieder gut, die Menschen ernähren sich nachhaltig und sind alle sehr glücklich. Das tut meiner Meinung nach einfach nur weh und zerschlägt viel von dem Vetrauen, das zuvor aufgebaut wurde.