Winter am Heustadelwasser

Heustadelwasser

Wer in unseren Breiten im Dezember Naturbeobachtungen machen möchte, muss seinen Ausflug gut planen. Nicht nur das Licht ist oft schlecht, auch die Natur macht Pause. Dafür hat die Stadt jetzt Saison, weil es hier wärmer ist als im Umland, und gerade die Wasservögel schätzen dieses bequeme Winterquartier.

Am Heustadelwasser im Wiener Prater sieht man zur Zeit nicht nur eine Vielzahl an Wintergästen, sondern auch zahlreiche Hobbyfotografen mit beeindruckenden Teleobjektiven, die nach geeigneten Motiven Ausschau halten.

Hier kann man neben den üblichen Stadtvögeln wie Stockente und Lachmöwe auch eine Gruppe von gut zwanzig Mandarinenten bewundern, deren buntes Gefieder im winterlichen Grau gut zur Geltung kommt.

Daneben scheinen sich die Gänsesäger von ganz Ostösterreich ein Stelldichein zu geben. Die Männchen haben ihr Prachtkleid angelegt und sind am dunklen Kopf von den graubraunen Weibchen leicht zu unterscheiden.

Mit etwas Glück sieht man einen blau leuchtenden Farbtupfer im Schilf sitzen. Das ist der Eisvogel, der sich hauptsächlich für das Geschehen unter der Wasseroberfläche interessiert. Im Heustadelwasser findet er nicht nur genug Fisch, um durch den Winter zu kommen. Die Beute bleibt auch in der kalten Jahreszeit zugängig, weil sich unter den Brücken selten eine geschlossene Eisschicht bildet.

Für die größeren Fische interessieren sich die Graureiher, die alle paar Meter im Wasser stehen oder sich vom nächsten Baum herab einen guten Überblick verschaffen.

Mit etwas Fantasie kann man am Heustadelwasser aber auch die Vergangenheit rekonstruieren. Im Westen wird Wien von einer Hügelkette begrenzt. Durch diese zwängt sich der Fluss zwischen Bisamberg und Kahlenberg, um sich anschließend in die Ebene zu ergießen. Von den zahlreichen Donauarmen sind heute nur noch Reste übrig wie die Alte Donau oder eben das im Plan orangerot markierte Heustadelwasser.

Stadtplan Wien
Quelle: OpenStreetMap

Die mittelalterliche Stadt lag früher am Wiener Arm, dort wo der Wienfluss mündet. Der Wiener Arm der Donau wurde über die Jahrhunderte hinweg zur Schifffahrtsrinne umgestaltet und heißt heute Donaukanal. Dahinter war Überschwemmungsgebiet, im Plan heller hervorgehoben. Der Bogen im Nordosten ist die Alte Donau, das frühere Flussbett.

Die expandierende Stadt wurde aber nicht nur hier in den Fluss hineingebaut. Zusätzlich gibt es noch eine Unzahl an Wienerwaldbächen, die aus dem umliegenden Hügelland in den Wienfluss und den Donaukanal münden. Im 19. Jahrhundert wurden diese Bäche, die den Unrat aus der Stadt transportierten, dann überbaut und in das Kanalsystem integriert.1 Einige Gründerzeithäuser, die damals errichtet wurden, stehen auf Holzpfählen wie in Venedig.

Das Ergebnis dieser Ingenieursleistungen ist, dass die Großstadt, die über Generationen hinweg immer weiter ins Wasser und in Überschwemmungsgebiete hinein gebaut wurde, heute besser vor Extremwetterereignissen geschützt ist als das Umland. Nach den Unwettern Mitte September war die Westbahnstrecke für drei Monate gesperrt und konnte erst diese Woche wiedereröffnet werden. Von den Schäden an der Bausubstanz in den Siedlungsgebieten und den Todesopfern ganz zu schweigen.

In Wien mussten nur einige U-Bahnstationen während der kritischen Phase mit Platten verschlossen und die betroffenen Linien kurzfristig stillgelegt werden. An der U-Bahnbaustelle bei der Pilgramgasse entstand erheblicher Sachschaden. Sonst ging das städtische Leben weiter wie gewohnt.

Der Hochwasserschutz wurde bei der Errichtung Wiens über die Jahrhunderte hinweg immer mitentwickelt. Einen der letzten Schritte, den Bau der Donauinsel, habe ich in den 1970er-Jahren miterlebt, und ich staune heute, wie sehr sich das Konzept von damals mit dem Entlastungsgerinne Neue Donau bewährt hat.

Bei einem Winterspaziergang am Heustadelwasser kann man aber auch ahnen, wie viel Natur früher dort war, wo heute eine Großstadt steht, die mehrere Generationen lang einen nicht unerheblichen Teil ihrer Fläche dem Wasser abgerungen hat. Vor diesem Hintergrund ist das idyllische Rückzugsgebiet der Vögel mitten in der Stadt nur der domestizierte, letzte Rest einer Aulandschaft, die vor Jahrhunderten noch die ganze Ebene bedeckte.


  1. Details dazu unter:
    https://magazin.wienmuseum.at/einwoelbung-der-baeche-und-fluesse-von-wien
    Ein schöner Plan über die Einzugsgebiete der Wienerwaldbäche findet sich in:
    https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gew%C3%A4ssernetzwerk_von_Wien ↩︎

Über den Dächern von Wien

Turmfalke

Über das Turmfalkennest in diesem Beitrag gibt es nicht nur eine Universum-Folge des ORF, es war – was natürlich viel wichtiger ist – auch schon einmal Thema in diesem Blog hier. Mittlerweile hat das gegenüber liegende Neue Institutsgebäude der Universität Wien keine Mensa mehr. Im obersten Geschoß befindet sich jetzt ein Aufenthaltsbereich und man kann auf die Dachterrasse, um mit dem Teleobjektiv von oben ins Nest zu schauen.

Die Turmfalken im Zentrum der Stadt brüten manchmal etwas später als im Umland, weil sie die Beute von weiter her holen müssen. Am 23. Mai saß das Muttertier noch auf dem Nest und deckte alles ab. Zwei Wochen später war ich wieder oben, da hatten die Jungen schon weißen Flaum. Anscheinend waren es drei Stück.

Noch drei Wochen später, am 24. Juni sah es so aus, als würde der Nachwuchs gleich das Nest verlassen. Ein Jungvogel ging bereits auf dem Sims spazieren, ein anderer hielt sich noch vorsichtig zurück.

Anfang Juli saß immer noch ein Jungvogel im Nest. Sein Kollege war aber längst aufs Dach übersiedelt.

Auf dem nächsten Bild habe ich die beiden Positionen mit kleinen Kreisen markiert, damit man sich das räumlich vorstellen kann. Ich widme das Foto den zahlreichen Erfindern, die in den letzten Jahrzehnten die Zoomobjektive weiterentwickelt haben. Mit freiem Auge könnte ich nicht einmal erkennen, ob im Nest ein Vogel sitzt.

Der Jungvogel auf dem Dach hielt Futter in den Krallen, das er genüsslich verspeiste. Erst am Computer entdeckte ich, dass es sich anscheinend um eine Heuschrecke handelte. Die hatte sich wohl gründlich verflogen und wurde so zum Grünfutter für den Turmfalken. In Zukunft wird er sich von Nagetieren ernähren wie seine Artgenossen, aber das erste selbst gefangene Futter schien ihm gut zu schmecken.

Für dieses Jahr geht die Brutsaison der Turmfalken zu Ende. Nächstes Jahr beginnt alles wieder von vorne. Wer weiß, wie viele Generationen an diesem Stammplatz schon ihre ersten Jagderfahrungen sammelten, um anschließend vom Dach aus den Luftraum der Stadt zu erobern.

Beim zweiten Anlauf

Junge Kohlmeise

Nicht immer geht die Aufzucht der Jungvögel gut aus. Letztes Jahr hatte ich den Nistkasten direkt unter dem Dachvorsprung montiert. Da scheint er in Reichweite eines hungrigen Jägers gewesen zu sein. Ob es Nachbars Katze war oder ein Marder auf seinem nächtlichen Streifzug, kann ich nicht sagen, ich fand nur die Federn am Boden.

Solche Misserfolge können dazu führen, dass sich ein Paar trennt. Außerdem habe ich dieses Jahr den Nistkasten einen Meter nach hinten versetzt, wo er eigentlich nicht zu finden war. Ich bin deshalb davon ausgegangen, dass er nicht wieder benützt wird, aber ich habe mich geirrt. Die Kohlmeisen scheinen meine Idee verstanden zu haben, sie besetzten den Nistkasten nicht nur erneut, sie waren auch noch so unauffällig, dass ich selbst erst gegen Ende der Brutsaison bemerkte, wie eifrig sie dieses Jahr am Werk waren.

Kurz bevor die Jungen flügge wurden, konnten die Eltern den Brutbetrieb nicht mehr verheimlichen. Im Minutentakt flogen sie ein und aus, um den Nachwuchs zu versorgen. Dann kam der große Moment – und ich habe natürlich alles versäumt. Plötzlich waren die Jungen weg.

Kurz davor hatte ich sicherheitshalber einen Spender mit zerstückelten Walnüssen aufgehängt. Normalerweise füttere ich unsere Vögel im Sommer nicht. Meiner Meinung nach können die Jungen von den Eltern ruhig lernen, wie man „echtes“ Futter findet. Es gibt bei uns in Garten und Umgebung genug. Der Spender ist im Grunde genommen nur Fastfood und macht bequem. Aber so kam ich wenigstens zu meinen Belegfotos, dass die Aufzucht erfolgreich war, und auch der Umgang mit der Futtersäule kann so einen Jungvogel vor schwierige Aufgaben stellen.

Junge Kohlmeise
„Der Sitzplatz ist zu weit weg vom Loch!“
Junge Kohlmeise
„So geht’s, aber auf dieser Seite sind nur Brösel!“
Junge Kohlmeise
„Da sind die großen Stücke, aber die gehen nicht raus!“
Junge Kohlmeise
„Dann halt zu Fuß!“

Diese Technik, dass sich die Meise das Futter mit den Krallen aus dem Spender holt, habe ich noch nie gesehen. Das ist wahrscheinlich die nächste Generation. In ein paar Jahren essen sie mit Messer und Gabel.

Die Eltern wollen aber nicht nur, dass der Nachwuchs brav isst und wächst, auch die Körperpflege muss gelernt sein. Das Baden kostet nicht nur eine gewisse Überwindung, das ist auch richtig gefährlich, wenn man sich eine Stelle aussucht, wo das Wasser viel zu tief ist.

Junge Kohlmeise
„Hier soll ich angeblich baden können.“
Junge Kohlmeise beim Baden
„Bin das ich?“
Junge Kohlmeise beim Baden
„Geht es da noch weit hinunter?“

Dieses Junge ist wirklich kreativ. Ich habe noch keinen Singvogel im Garten gesehen, der zum Baden den Ast hinunter ins Wasser rutsch. Am Ende hüpfte die Meise auf die Wasseroberfläche und startete wild flatternd direkt von dieser, was gar nicht so einfach war.

Die Brutsaison der Kohlmeisen war jedenfalls ein voller Erfolg. Die Jungen sind schon so flink und geschickt, dass sie durchkommen werden und die meisten Jäger keine Chance mehr haben, ihrer habhaft zu werden.

Doppelte Symbiose

Amselweibchen im Efeu

Im März raschelt es relativ oft zwischen den Efeublättern. Unsere Amseln lieben Obst, und nach dem Winterfrost scheinen die bläulichen Steinfrüchte endlich weich und reif genug.

Mit jedem Bissen nimmt die Amsel mehrere Samen auf, um sie an anderer Stelle wieder anzupflanzen. Es ist das Ende einer Geschichte, die ein halbes Jahr zuvor ihren Anfang nahm. Im September waren die Blüten des Efeus bei den Bestäubern genauso beliebt, wie es jetzt im Frühling die Früchte bei den Vögeln sind. Die folgenden Fotos habe ich im Herbst an der gleichen Stelle aufgenommen.

Pflanzen mussten im Laufe ihrer Evolution in verschiedenste Symbiosen investieren, um sich erfolgreich durchzusetzen. Der Efeu hat dabei einen eigenwilligen Zeitplan gewählt, um die Mitbewerber auszustechen. Sowohl seine Blüten als auch seine Früchte scheinen unwiderstehlich. Tatsächlich sind sie aber zu ihrer Jahreszeit fast konkurrenzlos. Im Herbst blüht er als einer der letzten, und frisches Obst ist zu Frühlingsbeginn eine Seltenheit. Die Amsel weiß den seltenen Leckerbissen zu schätzen und stopft eine Frucht nach der anderen in sich hinein. Auch sie hat ihre Konkurrenten, und nur wer zur rechten Zeit am rechten Ort ist, setzt sich durch und wird satt.

Hinzu kommt, dass der Efeu erst blüht und Früchte bildet, wenn er eine gewisse Größe erreicht hat. Sobald er an einem neuen Standort angekommen ist, bildet er lieber Ausläufer. Das ist die billigere Form sich zu vermehren, denn Symbiosen sind halt auch Beziehungen und folglich anstrengend.

Ein harmonisches Entenpaar

Stockentenpärchen

Letztes Wochenende hat sich, so wie im vergangenen Jahr, wieder einmal ein Entenpärchen in unseren Gartenteich verirrt. Die beiden schwammen synchron. Zuerst folgte sie ihm, dann er ihr, und am Ende waren sich beide einig, dass der Fotograf stört. Leise schnatternd mahnten sie zum Aufbruch und erhoben sich zeitgleich aus dem Wasser.

Nicht immer geht es bei Enten so harmonisch zu. Sie zählen zu den wenigen Vogelarten, wo die Männchen über einen Penis verfügen. Er ist spiralförmig und im Maximalzustand oft länger als das Tier. Erpel können dieses Organ auch gewaltsam einsetzen. Immer wieder beobachtet man, dass Männchen ungestüm über Weibchen herfallen und sie zur Paarung zwingen.

Normalerweise verhält sich der Erpel aber friedfertig und versucht das Weibchen mit Charme zu überzeugen. Das ließ sich aus evolutionsbiologischer Sicht lange nicht erklären, denn wenn man davon ausgeht, dass jedes Individuum bestrebt ist, sich mit möglichst wenig Aufwand zahlreich fortzupflanzen, und wenn man außerdem annimmt, dass sich Einstellungen vererben, dann müsste sich doch das aggressive Verhalten durchsetzen.

Enten haben aber nicht nur einen beeindruckenden, ungewöhnlich geformten Penis. Auch das Gegenstück ist komplex. Die Vagina der Hennen ist in entgegengesetzter Richtung spiralförmig verdreht und hat sogar Sackgassen.1 Damit können sie anscheinend beeinflussen, welcher Erpel seine Gene zur Fortpflanzung bringt, und Entenweibchen bevorzugen offensichtlich grün schillerndes Kopfgefieder und ein friedfertiges Gemüt.


Literatur:

  1. Lucy Cooke: BITCH. Ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich. – München 2023, S. 166ff ↩︎