Unser Amselpärchen gönnt sich keine Pause. Das zweite Nest der Saison ist immer noch auf Nachbars Grundstück, aber diesmal auf unserer Seite der Hecke. Die Jungen sehe ich zwar immer noch nicht, aber ich will auch nicht stören und bleibe auf Distanz.
Dem scheuen Männchen passt das so, aber das Weibchen ist eindeutig von der geselligeren Sorte. Es hüpft einem direkt vor die Füße und ist mittlerweile in der ganzen Nachbarschaft als „Die freche Amsel“ bekannt.
Neulich habe ich sie in der Morgensonne beim Einsammeln von Würmern fotografiert, und als ich dann am Nachmittag die Kohlrabi eingesetzt habe, ist mir genauso ein Wurm untergekommen, den ich ihr in die Wiese gelegt habe. Kommunikativ wie sie ist, hat die Amsel meine auffordernden Gesten verstanden, ist näher gehüpft, hat sich den Wurm angesehen – und ihn liegen gelassen.
Für dieses Verhalten habe ich nach Tagen immer noch keine hinreichende Erklärung gefunden. War der Wurm doch nicht von der gleichen Sorte? Gibt es genießbare und ungenießbare Würmer? Oder werden Amseljunge nach einem strengen Diätplan groß gezogen, der Würmer nur fürs Frühstück und am Nachmittag leichtere Kost vorsieht, weil die Kinder sonst in der Nacht nicht schlafen können? Ist es vielleicht gar so, dass selbst gesellige Amseln von fremden Männern keine Würmer annehmen dürfen, weil ihnen das von ihrer Mutter, in diesem Fall also eigentlich schon der Großmutter, so beigebracht wurde? Oder war mein Wurm einfach nur nicht sauber genug? Die Amsel hat den Kopf geschüttelt und gedacht, der kann ja nicht einmal einen Regenwurm so aus dem Boden ziehen, dass keine Erde daran haftet.
Wer hätte gedacht, dass so eine einfache, freundschaftlich gemeinte Geste so viele komplizierte Fragen aufwirft. Und weit und breit wieder einmal keine Antwort in Sicht.


