Die Simmeringer Wechselkröten

Wechselkröte

Obwohl Simmering den Zentralfriedhof und die Wiener Zentralkläranlage beherbergt, liegt der Bezirk doch am Rande der Stadt. Bis in die 1970er-Jahre waren Teile Simmerings ländlich und durch den Gemüseanbau geprägt. Die Gärtnereien sind immer noch hier, aber ländlich ist nichts mehr. Heute ist das eine dystopische Aneinanderreihung von Glashäusern, in deren künstlich geschaffener Atmosphäre nichts dem Zufall überlassen wird. Die riesigen Tanks mit Kohlendioxid zur Düngung der Gurken wirken wie die absurde Kunstinstallation eines Wortspiels: Treibhausgas eben.

Kohlendioxidtank

Man muss sich die Gegend schon von oben ansehen, um zu verstehen, wie dicht diese Konstruktionen aus Folien und Glas hier nebeneinander stehen.

Kartenausschnitt
Quelle: Stadt Wien – ViennaGIS; Kartengrundlage: Stadtvermessung, erstellt am 25.03.2025

So paradox es klingt: Diese krasse Form von Bodenversiegelung ist der Grund, warum es in diesem Gebiet eine bedeutende Population an Wechselkröten gibt. Jedes Frühjahr wandern die Tiere aus den Kleingärten links im Bild über die Straße zu den Glashäusern rechts, und wenn man genau schaut, sieht man auf der Luftaufnahme auch die dunklen Flächen, die die Amphibien magisch anziehen.

Wo alles abgedeckt ist, kann der Regen nicht versickern, und man braucht große Auffangbecken, um Überschwemmungen zu vermeiden. Deshalb gibt es zwischen den Gewächshäusern immer wieder Folienbecken, die das Wasser auffangen. Ein Teil der Flüssigkeit verdunstet, ein anderer wird zur Bewässerung verwendet, und da Fischbesatz den Nitratgehalt zu sehr erhöhen würde, sind diese schmucklosen Teiche ideale Laichgewässer für Wechselkröten.

Folienteich

Jetzt fragen sich manche wahrscheinlich, wie diese Population überleben kann, wo doch hier zwangsweise Autoverkehr herrscht, denn das Gemüse will ja auch irgendwie zum Verbraucher. Krötenzäune sind in der Stadt, wo Platz Mangelware ist, keine Option. Die Lösung ist eine kleine, gut organisierte Truppe, die den Amphibien über die Straße hilft. Da gibt es Freiwillige, die sich jeden Abend über das Wanderwetter austauschen: Kein Wind, möglichst Regen und über acht Grad sind ideal. Dann schwingen sich die Unerschrockenen aufs Rad und fahren ein zirka zehn Kilometer langes Wegenetz ab, um von der Straße zu schaffen, was an Kröten, Fröschen und Molchen gerade unterwegs ist. Hauptsächlich sind es allerdings Wechselkröten. Die kommen mit den Bedingungen am besten zurecht beziehungsweise haben sich an diese eigenartige Umgebung perfekt angepasst. Die städtische Wechselkröte ist etwas kleiner als ihre ländlichen Verwandten, und mir kommt vor, sie legt Wert auf gutes Aussehen.

Wechselkröte

Man kann nur hoffen, dass die Simmeringer Gärtner noch lange ein gutes Geschäft machen, damit dieser wunderschöne Camouflage-Schick erhalten bleibt. Wohnhausanlagen mit Teichen sind keine Alternative. Früher oder später landen in diesen Gewässern immer ausgesetzte Fische. Beim Zehngrafweg gegenüber vom Zentralfriedhof hat die Gemeinde Wien ein Laichgewässer für Wechselkröten angelegt. Im Abstand von mindestens fünf Metern führt dort ein torloser Schutzzaun herum. Ich vermute, bei dieser Distanz liegt der örtliche Rekord im Goldfisch-Weitwerfen.

Im Nebel

Ich möchte nicht wissen, wie viele faszinierende Sichtungen mir schon entgangen sind, weil ich achtlos an ihnen vorbei gegangen bin. Es gibt aber auch Wildtiere an Orten, wo man nie mit ihnen rechnen würde. Heute Morgen ging ich beispielsweise durch den Rathauspark.

Hier ziehen jeden Abend die Eisläufer ihre Runden. Es ist einer der frequentiertesten Plätze in Wien. Was würde man hier vermuten? Amseln, Kohlmeisen, in der Nacht vielleicht die eine oder andere Maus oder Ratte. Wie wahrscheinlich ist es, an diesem Ort folgende Aufnahme zu machen?

Waldohreule

Die Waldohreule schläft tief und fest hoch oben in der Baumkrone. Mit dem freien Auge ist sie kaum zu erkennen, und auch das Teleobjektiv hat im Nebel Schwierigkeiten. Den Kontrast habe ich nachträglich hochgedreht. Was macht dieses faszinierende Geschöpf im Zentrum der Stadt?

Die Natur passt sich an. Zuerst folgen Mäuse und Ratten dem Menschen, dann ziehen ihre Jäger nach. Jede Nische wird genützt. Umso wichtiger ist, dass wir der Natur nicht dazwischen pfuschen. Jeder Kammerjäger, der in den städtischen Parks Köderboxen ausbringt, sollte wissen, dass er damit auch den Eulen ihr Futter vergiftet. Die meisten Rodentizide werden schwer abgebaut, sie reichern sich an und wirken irgendwann auch bei größeren Tieren, die sich von vergifteten Nagern ernähren. Außerdem ist diese Form der Schädlingsbekämpfung nicht nachhaltig. Mit der Zeit werden die Mäuse und Ratten nur resistent. Gescheiter wäre es, Turmfalken, Eulen und Steinmarder auch in der Stadt zu unterstützen. Sie erledigen den Job viel besser, weil sie von der Evolution seit vielen Jahrtausenden dafür optimiert wurden, ihre Beutetiere zahlenmäßig in Schach zu halten.

Winter am Heustadelwasser

Heustadelwasser

Wer in unseren Breiten im Dezember Naturbeobachtungen machen möchte, muss seinen Ausflug gut planen. Nicht nur das Licht ist oft schlecht, auch die Natur macht Pause. Dafür hat die Stadt jetzt Saison, weil es hier wärmer ist als im Umland, und gerade die Wasservögel schätzen dieses bequeme Winterquartier.

Am Heustadelwasser im Wiener Prater sieht man zur Zeit nicht nur eine Vielzahl an Wintergästen, sondern auch zahlreiche Hobbyfotografen mit beeindruckenden Teleobjektiven, die nach geeigneten Motiven Ausschau halten.

Hier kann man neben den üblichen Stadtvögeln wie Stockente und Lachmöwe auch eine Gruppe von gut zwanzig Mandarinenten bewundern, deren buntes Gefieder im winterlichen Grau gut zur Geltung kommt.

Daneben scheinen sich die Gänsesäger von ganz Ostösterreich ein Stelldichein zu geben. Die Männchen haben ihr Prachtkleid angelegt und sind am dunklen Kopf von den graubraunen Weibchen leicht zu unterscheiden.

Mit etwas Glück sieht man einen blau leuchtenden Farbtupfer im Schilf sitzen. Das ist der Eisvogel, der sich hauptsächlich für das Geschehen unter der Wasseroberfläche interessiert. Im Heustadelwasser findet er nicht nur genug Fisch, um durch den Winter zu kommen. Die Beute bleibt auch in der kalten Jahreszeit zugängig, weil sich unter den Brücken selten eine geschlossene Eisschicht bildet.

Für die größeren Fische interessieren sich die Graureiher, die alle paar Meter im Wasser stehen oder sich vom nächsten Baum herab einen guten Überblick verschaffen.

Mit etwas Fantasie kann man am Heustadelwasser aber auch die Vergangenheit rekonstruieren. Im Westen wird Wien von einer Hügelkette begrenzt. Durch diese zwängt sich der Fluss zwischen Bisamberg und Kahlenberg, um sich anschließend in die Ebene zu ergießen. Von den zahlreichen Donauarmen sind heute nur noch Reste übrig wie die Alte Donau oder eben das im Plan orangerot markierte Heustadelwasser.

Stadtplan Wien
Quelle: OpenStreetMap

Die mittelalterliche Stadt lag früher am Wiener Arm, dort wo der Wienfluss mündet. Der Wiener Arm der Donau wurde über die Jahrhunderte hinweg zur Schifffahrtsrinne umgestaltet und heißt heute Donaukanal. Dahinter war Überschwemmungsgebiet, im Plan heller hervorgehoben. Der Bogen im Nordosten ist die Alte Donau, das frühere Flussbett.

Die expandierende Stadt wurde aber nicht nur hier in den Fluss hineingebaut. Zusätzlich gibt es noch eine Unzahl an Wienerwaldbächen, die aus dem umliegenden Hügelland in den Wienfluss und den Donaukanal münden. Im 19. Jahrhundert wurden diese Bäche, die den Unrat aus der Stadt transportierten, dann überbaut und in das Kanalsystem integriert.1 Einige Gründerzeithäuser, die damals errichtet wurden, stehen auf Holzpfählen wie in Venedig.

Das Ergebnis dieser Ingenieursleistungen ist, dass die Großstadt, die über Generationen hinweg immer weiter ins Wasser und in Überschwemmungsgebiete hinein gebaut wurde, heute besser vor Extremwetterereignissen geschützt ist als das Umland. Nach den Unwettern Mitte September war die Westbahnstrecke für drei Monate gesperrt und konnte erst diese Woche wiedereröffnet werden. Von den Schäden an der Bausubstanz in den Siedlungsgebieten und den Todesopfern ganz zu schweigen.

In Wien mussten nur einige U-Bahnstationen während der kritischen Phase mit Platten verschlossen und die betroffenen Linien kurzfristig stillgelegt werden. An der U-Bahnbaustelle bei der Pilgramgasse entstand erheblicher Sachschaden. Sonst ging das städtische Leben weiter wie gewohnt.

Der Hochwasserschutz wurde bei der Errichtung Wiens über die Jahrhunderte hinweg immer mitentwickelt. Einen der letzten Schritte, den Bau der Donauinsel, habe ich in den 1970er-Jahren miterlebt, und ich staune heute, wie sehr sich das Konzept von damals mit dem Entlastungsgerinne Neue Donau bewährt hat.

Bei einem Winterspaziergang am Heustadelwasser kann man aber auch ahnen, wie viel Natur früher dort war, wo heute eine Großstadt steht, die mehrere Generationen lang einen nicht unerheblichen Teil ihrer Fläche dem Wasser abgerungen hat. Vor diesem Hintergrund ist das idyllische Rückzugsgebiet der Vögel mitten in der Stadt nur der domestizierte, letzte Rest einer Aulandschaft, die vor Jahrhunderten noch die ganze Ebene bedeckte.


  1. Details dazu unter:
    https://magazin.wienmuseum.at/einwoelbung-der-baeche-und-fluesse-von-wien
    Ein schöner Plan über die Einzugsgebiete der Wienerwaldbäche findet sich in:
    https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gew%C3%A4ssernetzwerk_von_Wien ↩︎

Der Schlafbaum der Kormorane

Der vielleicht lebendigste Teil der Donauinsel heißt Toter Grund. Paradox ist in Wien halt ein Attribut, das man noch mit Ehrfurcht vergibt. Der Tote Grund ist ungefähr einen Kilometer lang und von einem breiten Wassergraben durchzogen, der am unteren Ende mit der neuen Donau verbunden ist. Hier hat man in den 1970er-Jahren bei der Aufschüttung der Donauinsel das ehemalige Überschwemmungsgebiet in seinem Urzustand belassen. Dementsprechend stehen noch große, alte Bäume am Wasser, die im November jeden Nachmittag von zahlreichen schwarzen Vögeln angeflogen werden.

Wenn man sie so in der untergehenden Sonne sitzen sieht, denkt man zuerst an die üblichen Saatkrähen, die im Winter aus dem Osten Europas in die Stadt ziehen. Tatsächlich sind es Kormorane, die hier ihren Schlafplatz gefunden haben.

In der Früh sind sie sehr schnell weg und verteilen sich über die Gewässer der Stadt. Man sieht sie dann zum Beispiel am Donaukanal bei der Jagd oder bei der Gefiederpflege.

Manche bleiben auch einfach auf ihrem Schlafbaum sitzen, um im Nebel vor sich hin zu dösen oder mit Imponiergehabe die Flügel zu trocknen. Fisch scheint es in der Donau reichlich zu geben, und da es in der Stadt nicht mehr so kalt wird, dass der Fluss zuzufrieren droht, haben die Vögel anscheinend wenig Stress.

Ich habe mich immer gefragt, wie viele Kormorane im Winter Wien bevölkern. Am Nachmittag zwischen drei und vier, wenn die letzten Sonnenstrahlen des Tages den Toten Grund in Rot tauchen, kann man sie zählen. Es sind weit über hundert, die sich hier versammeln, und das hat mich doch einigermaßen überrascht.

Umweltschutz für Schilderbürger

Violette Sommerwurz Schild

Am Rande einer Brachfläche im 11. Bezirk hat die MA 42, die umgangssprachlich immer noch Stadtgartenamt heißt, obwohl sie sich längst in „Wiener Gärten“ umbenannt hat, vor einiger Zeit zwei Schilder aufgestellt, mit denen sie über die Violette Sommerwurz informiert.

Diese Pflanze kann etwas Besonderes: Sie bringt schöne Blüten hervor ohne dafür Blätter zu benötigen. Für dieses Kunststück setzt sie sich einfach auf die Schafgarbe und zapft diese an. Die Schafgarbe ist weit verbreitet und deshalb als Wirtspflanze eine gute Wahl, aber mit dem Rückgang nährstoffarmer Wiesen tut sich die Violette Sommerwurz immer schwerer, geeignete Unterlagen zu finden, weshalb sie in Österreich unter Schutz steht.

Baustelle HyblerparkUmso mehr hat mich gewundert, dass das Erdreich hinter den Schildern in den letzten Tagen tiefgreifend abgetragen wurde. Aus der „Gstätten“, wie man in Wien zu ungenützten Brachflächen sagt, wurde eine Baustelle, und in den nächsten Monaten wird hier die rundum fleißig tätige Stadterweiterung ein weiteres Gebäude aus dem Boden schießen lassen. Aber was ist mit der Violetten Sommerwurz?

Baustelle Hyblerpark/Modecenterstraße Die lebt, ich habe nachgefragt, jetzt auf dem schmalen Grünstreifen neben der Baustelle. Behutsam umgesetzt von der MA 42 unter der Aufsicht der MA 22, das ist der Umweltschutz. So kann die Violette Sommerwurz auch weiterhin ihre zahlreichen Samen vom Wind verbreiten lassen, wie auf dem Schild steht. Auf dass sie irgendwo auf dem umliegenden Asphalt eine neue Heimat finden.

Der Vorteil des sechsten Artensterbens ist, dass es vor unserer Haustür stattfindet. So können wir zu Fuß hingehen und uns den ganzen Trubel CO2-neutral aus der ersten Reihe ansehen. Und die Ursache ist auch unübersehbar. Ich habe keine Ahnung, ob in Österreich wirklich jeden Tag zwanzig Fußballfelder versiegelt werden, wie es heißt, aber die genauen Zahlen brauche ich auch nicht. Ein Teil dieser Fußballfelder war hier früher einmal die Simmeringer Haide – schreibt man mit a und spricht man auch mit drei: simaringahad, ein Wort, das letzte a etwas länger. Es lohnt sich aber nicht, die genaue Aussprache zu lernen. Die ehemalige „Gstätten“, Stichwort Magerwiese, ist längst unter Häuserblöcken verschwunden, denn die wachsende Bevölkerung braucht Platz. Dagegen kann man wahrscheinlich gar nichts machen.

Was mich am meisten ärgert, sind komischerweise die Schilder, die uns weismachen wollen, dass in diesem Zusammenhang auch auf die Umwelt Rücksicht genommen wird. Statt uns Gedanken zu machen, wie wir auf dem knapper werdenden Lebensraum trotzdem ein funktionierendes Miteinander von Mensch und Natur erwirken können, beschäftigen wir uns lieber mit PR-Maßnahmen und Schönheitskosmetik.