Meister der Unordnung

Frei nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik strebt ein geschlossenes System in der Natur immer Richtung Unordnung. Fällt ein Tropfen Tinte in ein Glas Wasser, schwebt er nicht als dunkle Kugel durch das Glas, sondern verteilt sich mit der Zeit im Wasser. Ebenso strebt ein Gegenstand oder eine Chemikalie immer den energetisch niedrigsten Zustand an: Eine Packung Reis, die uns aus der Hand gleitet, bleibt nicht in der Luft stehen, sondern fällt zu Boden und verteilt sich dort im ganzen Raum. Knallgas bleibt nicht lange stabil, das Gemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff verpufft und wird zu Wasser. Aus dem gleichen Grund rostet Eisen und verbrennt Holz: In der Natur strebt alles nach dem niedrigsten Energienivieau und dem höchstmöglichen Maß an Unordnung.

Und warum sind wir dann hier? Der menschliche Organismus ist überaus komplex. Wieso verknüpfen sich organische Moleküle auf derart vielschichtige Weise, dass daraus Leben entsteht?

Zunächst einmal ist die Erde kein geschlossenes System. Durch die Sonneneinstrahlung wird ihr ständig Energie zugeführt. Das ist aber noch nicht alles, denn auch Venus und Mars werden von der Sonne angestrahlt, trotzdem besteht ihre Atmosphäre zu weit über 90% aus CO2, wie aufgrund der physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten zu erwarten ist. Zur Energie kommen verschiedene günstige Bedingungen auf der Erde: Wasservorkommen, ein Magnetfeld, der Mond etc. Aber die wichtigste Ursache für die Entstehung komplexer Lebensformen ist das Vorhandensein von Leben selbst. Wir sind schlicht und einfach das Ergebnis der Evolution und des gegenseitigen Wettrüstens.

Irgendwann vor ungefähr 2,4 Milliarden Jahren etablierten sich die ersten Cyanobakterien auf der Erde. Durch ihre Fähigkeit zur Photosynthese bildete sich Sauerstoff und das erste große Artensterben wurde ausgelöst. Für die meisten damaligen Bakterien war Sauerstoff nämlich giftig.

An ihre Stelle traten neue Lebensformen, die die plötzlich in Form von Sauerstoff frei verfügbare Energie für sich nutzbar machten. Ihre Zellen enthalten kleine Kraftwerke, in denen Sauerstoff und Kohlenstoff miteinander reagieren, und dieser Mechanismus treibt uns alle an. Mit der Zeit hat sich dadurch in der Atmosphäre ein Anteil von 20% Sauerstoff etabliert. Das ist gerade genug Sauerstoff, um uns atmen zu lassen und gleichzeitig mögliche chemische Reaktionen in Grenzen zu halten. James Lovelock bezeichnet diesen Zustand als meta-stabil. Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Organismen erlauben einen Zustand höherer Ordnung. Das Geheimnis unserer Existenz liegt in dieser Kooperation.

Im Laufe der Evolution sind Lebewesen Symbiosen eingegangen und haben sich zu anderen Arten zusammengeschlossen. Dadurch sind immer komplexere Ökosysteme entstanden, die nicht zuletzt auch uns Menschen hervorgebracht haben. Von der durch physikalisch-chemische Gesetze definierten Unordnung hat das Leben die Erde in ein System äußerst komplexer Ordnung transformiert. Unter anderem wurde dabei durch die Photosynthese jede Menge CO2 aus der Atmosphäre entfernt und als Kohle, Erdöl oder Humus abgelagert. Obwohl sich die Strahlkraft der Sonne in den letzten 500 Millionen Jahren um 4% erhöht hat, ist durch diesen umgekehrten Treibhauseffekt die Durchschnittstemperatur auf der Erde deutlich zurückgegangen, was wiederum die Möglichkeiten des Lebens und die Artenvielfalt deutlich erhöht hat. Schritt für Schritt wurde das System Erde immer komplexer.

Bis wir ins Spiel kamen. Aus Sicht der Natur betrachtet, sind wir die Meister der Unordnung. Mit zunehmender Geschwindigkeit drehen wir die Zeitleiste zurück, vor allem weil unser Verständnis von Ordnung der natürlichen Komplexität zuwiderläuft. Werfen wir dafür einen kurzen Blick in unsere Gärten: Eine naturbelassene Wiese besteht aus hunderten verschiedenen Kräutern. Wald ist eigentlich eine vielfältige Mischung unterschiedlichster Baumarten mit dichtem Unterholz. Wie konträr ist das, was wir unter einem „ordentlichen“ Garten verstehen: Aus dem englischen Rasen ragen maximal vereinzelt Bäume und alles wird umrahmt von einer Thujenhecke. Nicht zu vergessen die dekorativen Steinaufschüttungen, die einzelne Bereiche sowieso zur Wüste verkommen lassen. Sobald sich der Mensch in die Natur gestaltend einmischt, wird alles wie ein Maisfeld – Monokultur in Reih und Glied. Naturbelassen hat für uns immer den Eindruck von Chaos, dabei ist es viel geordneter, ein komplexes System von Beziehungen, dessen einzige Unordnung darin besteht, dass wir zu wenig davon verstehen.

Unser Faible für das Destruktive geht aber noch weiter: Zu den kompliziertesten Lebensräumen, die wir hervorbringen, zählen die Städte. Ohne ein ausgefeiltes Sozialgefüge mit unzähligen Regeln wäre ihre Existenz unmöglich. Modernste Technik von klimatisierten Gebäuden bis zum öffentlichen Verkehr macht sie für uns lebenswert. Für die Natur sind sie aber nur versiegelte Fläche, eine lebensfeindliche Wüste, die im Sommer zunehmend unerträglich heiß wird. Außerdem liegen unsere Städte mit Vorliebe an einem Fluss in fruchtbarer Gegend. Wir transformieren humusreiches, wertvolles Ackerland in eine künstliche Felslandschaft, die für Kulturfolger nur deshalb interessant ist, weil ihre Fressfeinde fehlen. Was die Natur über Jahrmillionen mühsam geschaffen hat, dreht der Meister der Unordnung in großen Schritten wieder zurück.

Ein globaler Aspekt dieser Transformation erfährt im Moment große mediale Aufmerksamkeit: Alles spricht vom Klimawandel. Gleichzeitig trivialisieren wir das Problem und konzentrieren uns auf die fossilen Energieträgern. Die Politik verkauft uns unter dem Schlagwort Energiewende eine Patentlösung, die so nicht funktionieren wird, weil sie nur einen kleinen Aspekt der Thematik berücksichtigt. Für den CO2-Ausstoß ist der Humusabbau in der Landwirtschaft genauso mitverantwortlich wie das Abholzen unserer Wälder. Die Versiegelung der Böden durch Bautätigkeit fördert die Erderwärmung ebenfalls. All diesen Vorgängen gemeinsam ist, dass die Komplexität der Ökosysteme massiv abnimmt. Wo früher kleinteilige Strukturen mit hoher Artenvielfalt vorherrschten, findet sich heute ein menschengeschaffener, globalisierter Einheitsbrei. Aus unserer Sicht wird die Welt vielleicht immer komplizierter und vernetzter, aber aus Sicht der Natur treiben wir die Unordnung voran und damit die Zeit zurück.

Und was hat das alles in einem Gartenblog zu suchen? Gute Frage. Dieses Thema ist ein globales, und wir sind den Zusammenhängen vielfach ausgeliefert. Ich verstehe, dass es schwierig ist, den weltweiten Verzicht auf fossile Energieträger durchzusetzen, ohne gleichzeitig die Wirtschaft zum Erliegen zu bringen. Ich verstehe auch, dass Städte als Lebensraum für eine wachsende Weltbevölkerung immer wichtiger werden und dass die ökonomischen Rahmenbedingungen hier oft naturferne Strukturen erzwingen. Aber warum pflastern sich dann zusätzlich noch so viele Leute ihren Vorgarten mit Steinplatten zu? Damit der Klimawandel auch vor der Haustür Einzug hält? Jedes Blatt, das auf den Boden fällt und zu Humus wird, bindet einen Teil des Kohlenstoffs dauerhaft in der Erde. Warum muss man diesen natürlichen Vorgang sofort mit einem Laubsauger unterbinden? Damit das bisschen gebundene CO2 gleich wieder frei gesetzt wird? Irgendwann, wenn die Erde zur Wüste verkommen ist und bis zum Horizont nur Stein und Sand, wird der letzte Mensch im Schutzanzug vor die Haustür treten und sagen: Aber schön ordentlich ist es heutzutage schon.

Vielleicht wird das mit der Rettung der Welt nichts. Vielleicht reicht es aber auch, wenn wir in unserem unmittelbaren Einzugsbereich etwas dafür tun. Oder besser gesagt: nichts tun. Einfach mal die Zügel schleifen lassen. Nicht aufräumen. Nicht ständig Ordnung machen. Das Laub ruhig liegen lassen, den Rasen weniger oft mähen. Einfach nur zusehen und staunen, dass sich so viel von selbst regelt. Damit kann jeder in seinem Garten anfangen.

Und auch auf kommunalpolitischer Ebene würde man sich oft mehr Mut zum Wachsenlassen wünschen. Ein schönes Beispiel aus der Praxis habe ich neulich im Blog „GRUNDidee Naturgarten“ gefunden. Da geht es um ein Stück naturbelassene Straßenböschung und wie schwer es ist, die Ordnungswut aus unseren Hinterköpfen zu bekommen. Wir haben offensichtlich einen inneren Zwang zu gestalten, dabei muss Natur im Normalfall nicht gestaltet werden. Die ist schon geordnet. Was wir unter Ordnung verstehen, ist nur leider für die Natur Chaos – und umgekehrt. Es würde helfen, wenn wir dieses Missverständnis ein Stück mehr aus unseren Köpfen bekämen.


Lesetipps:

Lynn Margulis: Der symbiotische Planet, Westend: Frankfurt am Main 2017

Die englische Originalausgabe von „Symbiotic Planet“ ist bereits 1998 erschienen. Die 2011 verstorbene Evolutionsbiologin Lynn Margulis verknüpft darin Symbiontentheorie und Gaia-Hypothese zu einer kurzweiligen Erzählung über die Entstehung des Lebens auf der Erde. Das Buch beginnt mit den urförmigen Mikroorganismen, die sich symbiotisch zu komplexeren Lebewesen und Zellstrukturen zusammenschließen, und zeigt am Ende die Erde als großen Superorganismus, auf dem die verschiedenen Arten zusammenwirken. Unterbrochen wird die Darstellung immer wieder durch Anekdoten und Autobiographisches. Stilistisch passt das zu den frei fabulierten wissenschaftlichen Ausführungen, und man lernt so relativ kurzweilig Lynn Margulis‘ Forschungskonzepte kennen.

Ute Scheub, Stefan Schwarzer: Die Humusrevolution. Wie wir den Boden heilen, das Klima retten und die Ernährungswende schaffen, oekom: München 2017

Das Buch bietet eine Vielzahl an überzeugenden Beispielen, wie die Humusschicht durch unsachgemäße Bearbeitung abgetragen und andererseits auch wieder aufgebaut werden kann. Eine ausführliche Rezension findet sich auf Leselebenszeichen. „Die Humusrevolution“ ist, nicht zuletzt auch dank der zahlreichen Interviews, sehr überzeugend – bis auf Kapitel 7. Am Schluss wagen die Autoren einen positiven Blick ins Jahr 2050: Alles wird wieder gut, die Menschen ernähren sich nachhaltig und sind alle sehr glücklich. Das tut meiner Meinung nach einfach nur weh und zerschlägt viel von dem Vetrauen, das zuvor aufgebaut wurde.