Das perfekte Einflugloch

Es klopft. Ein vertrauter Klang. Ich unterbreche die Gartenarbeit, hebe den Kopf und sehe gerade noch den kleinen Vogel ins Innere des Nistkasten schlüpfen. Kaum steigen die Temperaturen, beginnen die Blaumeisen mit ihrer Zimmermannsarbeit. Genauso gewohnheitsmäßig hole ich die Kamera und mache ein paar Fotos zur Dokumentation. Seit ich den Meisenkasten vor sechs Jahren montiert habe, hämmern sie daran herum. Unsere Blaumeisen müssen im früheren Leben einmal Spechte gewesen sein. Warum sie das tun, habe ich nie verstanden – bis zu diesem Wochenende. Beim Durchblättern der Fotos wurde mir dann der Plan dahinter plötzlich klar. Aber alles der Reihe nach.

Am Anfang war das Einflugloch rund. Ich habe es selbst mit der Raspel so lange bearbeitet, bis es genau 28 Millimeter im Durchmesser hatte, so wie es in den meisten Beschreibungen für Blaumeisen empfohlen wird. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir nämlich bereits einen Nistkasten auf der anderen Seite des Hauses mit einer etwas größeren Öffnung für die Kohlmeisen, und noch mehr Kohlmeisen wollte ich nicht.

Der Kasten war ein voller Erfolg. Die Blaumeisen haben ihn sofort angenommen und seither keine Saison ausgelassen. Sie sind unauffällige, fleißige Untermieter, helfen bei der Gartenarbeit, räumen die Obstbäume frei von Blattläusen, kümmern sich um ihren wohlerzogenen Nachwuchs und werden selten so laut wie die Spatzen – wenn da nur das Klopfen nicht wäre.

Und, weil die unausgesprochene Frage im Raum steht: Ja, das Zimmer daneben ist unser Schlafzimmer, und ein hohler Kasten ist immer ein gewisser Resonanzraum. Man hört es. Freundlicherweise nie vor Sonnenaufgang. Aber es weckt einen schon manchmal auf. Klopfen kann man schwer ausblenden. Und dann frisst einen, also mich zumindest, ja auch die Neugier: Warum machen die das?

In den ersten Jahren blieb die Form der Öffnung gleich. Sie konzentrierten sich bei der Bearbeitung auf die Oberfläche des Holzes. Man sieht es sehr schön auf den Bildern oben: Blaumeisenzimmermann und -frau können sich seither mit ihren Krallen direkt am Holz festhalten. Wahrscheinlich war dieser bessere Halt notwendig, um weitere Veränderungen vornehmen zu können. Und ziemlich sicher sind dadurch die weiteren Arbeitsschritte meiner Aufmerksamkeit entgangen. Wer denkt schon, dass Blaumeisen mit Strategie über mehrere Jahre hinweg an ihrer Behausung herumwerkeln.

Glücklicherweise kann ich aus meinen Fotos rekonstruieren, dass das Einflugloch bis zum Jahr 2018 weiterhin rund war. Seit dem März 2019 hat es die jetzige Form, die in etwa an ein nach oben gewölbtes Auge mit hängenden Winkeln erinnert. Und der Grund dafür ist eigentlich auch klar, wenn man sich die folgenden Sommerfotos ansieht:

Der Sommer ist stressig. Im Minutentakt schleppen die Elternvögel Nahrung heran. Da zählt jede Sekunde, und für effiziente Leistung braucht man gutes Werkzeug. Da muss man selbst die kleinsten Optimierungsmöglichkeiten nützen, und so haben die Blaumeisen ein ergonomisch perfekt angepasstes Schlupfloch geschaffen. Die Höhe ist gleichgeblieben, das sperrt größere Vögel wie die Kohlmeisen weiterhin aus, aber seitlich wurde die Öffnung dem Blaumeisenkörper angepasst. Und noch etwas fällt auf, wenn man genau hinsieht: Die von uns aus rechte Ecke öffnet mehr zur Seite als die linke. Das Loch ist asymmetrisch, aber auch dafür gibt es eine Erklärung, wie das letzte Bild zeigt.

Blaumeise

Niemand fliegt gern gegen eine Hausmauer, also wirft sich die Meise von ihr aus gesehen nach links in die Luft, und ich denke, deshalb hängt die Öffnung leicht zu Seite. Sie gibt die ideale Richtung für den Katapultstart vor.

Selbstverständlich sind das alles nur Hypothesen, aber es ist doch erstaunlich: Überall in der Fachliteratur und im Netz findet man die gleichen Tabellen, wie Einfluglöcher von Nistkästen gestaltet sein müssen, um bestimmte Vogelarten anzulocken – rund, oval, vertikal oder horizontal – aber hat irgendwer dazu die Vögel befragt? Unser Pärchen scheint jedenfalls seine eigene Vorstellung zu haben, wie sein Unterschlupf gestaltet werden soll. Das ist umso erstaunlicher, als es Jahre gedauert hat, dem Brett seine heutige Form zu geben, und es ist nicht auszuschließen, dass davon bereits die zweite Generation profitiert. Unter Umständen war es nicht einmal Teamwork, vielleicht war es ein kreativer Vogel, männlich oder weiblich, der dem Werk im Frühjahr 2019 seine jetzige Form gegeben hat.

Verändert haben jedenfalls alle Bewohner ein bisschen etwas. Ich höre sie jedes Jahr klopfen. Und angesichts dieser tollen Leistung, die auf ein gewisses Maß an Intelligenz schließen lässt, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich zukünftige Generationen irgendwann auf die Vogelschulter klopfen und sagen: Gut ist es! Fertig. Lassen wir es so! Und vielleicht, bei aller Freude über die Nachbarschaft, besteht dann auch die Chance, dass das Klopfen wieder aufhört und ich in der Früh etwas länger schlafen kann.

25 Kommentare zu „Das perfekte Einflugloch

  1. Guten Morgen Richard.
    Das ist ja genial wie Blaumeisen ihr Häuschen wohnlicher gestaltet haben.
    Da erzähle mal einer Tiere seien nicht schlau.
    Schön dass du es über solch einen langen Zeitraum dokumentiert hast.
    LG, Nati

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    1. Guten Morgen Nati. Ja, das war irgendwie erstaunlich. Am meisten überrascht hat mich, dass ich so lange gebraucht habe, bis es mir aufgefallen ist. Man weiß, es muss etwas zu bedeuten haben, aber man kann die Tierchen ja nicht fragen. Beziehungsweise fragen kann man sie schon, aber die Antworten sind recht unverständlich. 😉
      Liebe Grüße, Richard

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    1. Danke. Die Fotos vom Sommer haben gut zu den aktuellen gepasst. Es zahlt sich dann aus, wenn man auch die Sachen, die man nicht gleich braucht, in der Fotoverwaltung beschlagwortet.
      Liebe Grüße, Richard

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  2. Das sind ja wirklich tolle Beobachtungen, Richard, und ja, Deine Schlussfolgerungen klingen nachvollziehbar und logisch.
    Einfach genial, wie die kleinen schlauen Meisen ihre Brutstätte bedürfnisgerecht gestaltet haben. Ich glaube, wir Menschen haben bisher die Vogelintelligenz auch hier unterschätzt, einfach, weil ihr Hirn anders als unser Säuger-Gehirn gebaut ist. Aber es erweist sich immer wieder: anders muss nicht schlechter sein.
    Liebe Grüße
    Ines

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  3. Das ist ja spannend. Man erwartet so was von Spechten und Kleibern, aber nicht unbedingt von Meisen, mit ihren winzigen Schnäbeln. Die gelten ja offiziell nur als Untermieter in den abgelegten Höhlen der anderen.

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    1. Ja, das dachte ich auch. Ich finde auch komisch, dass ich noch nie über so eine Beschreibung gestolpert bin. Ich glaube ja nicht, dass das eine regionale Besonderheit oder ein Spleen einer speziellen Meise ist. Die machen das sicher öfters.

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    1. Danke für dieses Feedback. Ich war schon verunsichert, dass ich vielleicht der einzige mit einer klopfenden Meise bin. Das muss ja eine verbreitetere Angewohnheit sein. Schön, dass sie auch bei dir hämmern.
      Liebe Grüße, Richard

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  4. Die von dir umfassend beschriebenen Beobachtungen kann ich insofern nachvollziehen, als auch bei mir die Meisen das Einflugloch vergrößert haben und zwar während der Fütterungszeit. Kurz vor dem Abfliegen flogen dann jeweils einige Späne. Aber die beiden bearbeiteten Holzkästen haben ein eher unförmiges nur etwas größeres Loch erhalten. Beim Tonhäuschen haben sie es natürlich gar nicht erst versucht.
    Was den Specht betrifft, so besucht dieser ganz in Meisenmanier die Meisenknödel. Von den größeren Vögeln hat er offenbar die Fähigkeit sich an den Knödel anzuhängen. Allerdings kann er es nicht lassen auch noch sinnlos rumzuhacken und zwar nicht auf den Knödel, sondern auf das Holz, an dem der Knödel hängt. Und zwar erfolgt diese Prozedur so, dass er, Fressphasen mit Hackphasen abwechselt.
    Die etwa gleich großen Amseln haben keine Chance, obwohl ich während der kalten Tage einige hilflose Bemühungen beobachten konnte.

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    1. Danke für diese Beschreibung. Ich bin ja auch gar nicht sicher, wie viel Strategie da dahinter steckt und ob die Form wirklich gezielt so geschaffen wurde. Es sieht halt einmal so aus, braucht aber sicher wissenschaftlich fundiertere Versuchsanordnungen als eine Zufallsbeobachtung. Das kann nur der Anfang sein.
      Viel an dem Geklopfe scheint mir bei den Vögeln auch Reflex. Die machen das, weil es Spaß macht. Beim Specht ist auch wichtig, dass es laut ist. Wenn der bei dir hämmert und frisst abwechselnd, will er ja vielleicht zwischendurch Lärm machen, um andere auf Distanz zu halten.

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  5. Ja, so sehe ich das auch. Ich vermute, dass der Specht aufgrund seiner Fähigkeit,sich an den Meisenknödel anzuklammern, der einzige größere Vogel ist, der von der Speise profitiert. Die kleineren Spatzen, verschiedene Meisen, Rotkelchen etc. warten dann in einiger Distanz, bis sich der „Herr“ gequemt eine Pause zu machen. Ich habe aber auch schon beobachtet, dass der eine oder andere freche Spatz es wagte gleichzeitig mit am Knödel zu picken, ohne dass es Streit gab.

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  6. Tolle Beobachtung, das kann doch so stimmen.
    Eine Kohlmeise leistete bei uns am Nistkasten auf dem Balkon auch ganze Arbeit. Irgendetwas haben sie immer…mal am Kasten mal das Efeu davor.. tja und bei wechselnden Bewohnern ist immer etwas zu tun..

    ..grüßt Syntaxia

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    1. Ja, das Hämmern liegt ihnen anscheinend. Fein, dass du diese Beobachtung bestätigen kannst. Die eine oder andere Meise fühlt sich anscheinend gern wie ein Specht.
      Liebe Grüße, Richard

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    1. Danke. Die Blaumeisen sind aber auch wirklich seit Jahren zuverlässige Helferlein im Garten. Fleißig und unauffällig. Da habe ich mich über die Beobachtungen besonders gefreut, weil ich Ihnen so diesen Beitrag widmen konnte.

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  7. Hallo Richard , dein Beitrag über dei Meisenkasten lieg zwar schon einige Tage zurück, ich möchte dazu eine Beobachtung aus meinen Beobachtungen hinzufügen. Ich habe in meinem Garten einige Brutkästen aufgehängt und beobachte diese sehr genau und das ganz besonders seit meiner Behinderung . Ich wollte wissen wie lange es dauert bis ein Elternteil mit Futter zurück zu den Jungen kommt. Bei den Haussperlingen ist die Durchschnittzeit über meine gesamte Beobachtungszeit gleich geblieben, auch den Amseln die seit Jahren in meiner Hecke brüten, ist in dieser Pendelzeit zwischen Abflung und Rückkehr kein großer Unterschied zu erkennen . (Sie suchen Futter im direkten Umfeld) Ein ganz gravierender Unterschied ist in den letzten Jahren bei Kohl und Blaumeisen eingetreten . Diese Vögel brauchen in den letzten beiden Jahren viel länger um mit Futter zu ihren Jungen zurückzukehren. Auch das Junge verenden und von den Eltern aus dem Kasten geworfen werden, ist häufiger zu beobachten . Ich schließe daraus, dass sich hier das Fehlen von Insekten bemerkbar macht, ohne es aber begründen zu können . Es ist eine Vermutung auf Grund meiner Beobachtungen. Eine Nachfrage bei Peter Berthold Leiter der Vogelwarte Radolfzell, hat meine Beobachtung zwar nicht bestätigt aber für sehr wahrscheinlich gehalten .Denn diese Beobachtungen sind in den letzten Zei Jahren auch anderer Ots zu beobachten.

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    1. Lieber Werner, das ist eine sehr interessante, wenn auch nicht schöne Beobachtung. Die Kohlmeisen sind bei uns vor Jahren zu den Nachbarn übersiedelt. Seither sind in dem Nistkasten Hausspatzen. Ich glaube aber, dass alle drei Arten, Kohl- und Blaumeisen und die Hausspatzen, in den drei Nistkästen erfolgreich brüten. Die Kohlmeisen kommen ja immer noch bei uns Futter holen. Die räumen beispielsweise die Raupen der Pfaffenhütchen-Gespinnstmotte ab, und fliegen dann im Minutentakt hin und her.
      Das Hausspatzen-Männchen hat sich wiederum in den letzten Jahren auf die frisch geschlüpften Libellen spezialisiert. Der holt sie sich jeden Morgen zum Frühstück vom Teich. Die Blaumeisen habe ich wiederum beobachtet, wie sie sich ganze Blattlauskolonien von einem befallenen Obstbaum geholt haben. Alle drei Arten ernähren sich bei uns von unterschiedlichen Insekten und kommen anscheinend gut zurecht.
      Ich glaube, du hast einmal geschrieben, dass die Hausspatzen bei euch auch die Raupen des Buchsbaumzünslers abgrasen. Vielleicht sind die eher bereit, neue Nahrung zu erschließen. Vielleicht fehlt das den Kohlmeisen. Jedenfalls finde ich deine Beobachtung sehr interessant.
      Persönlich beobachte ich den Bruterfolg zu wenig genau. Anfangs habe ich Webcams installiert und einzelne Nistkästen überwacht. Jetzt räume ich nur noch die Kästen im Spätherbst leer. Vor drei Jahren haben die Blaumeisen zwei Eier zurück gelassen. Manchmal fangen sie eine zusätzliche Brut an, die dann nicht fortgesetzt wird. Letztes Jahr war ein vertrocknetes Junges unter dem Nest. Alle paar Jahre kommt also vor, dass nicht alle Jungvögel erfolgreich durchkommen. Das ist aber normal, denke ich. Sonst geht es ihnen gut.
      Der Schlüssel sind sicher die Insekten, wie du schreibst. Ich habe auch da keine systematischen Beobachtungen, aber ich denke, wir sind begünstigt. Rundum sind lauter Nachbarn, die auf Chemie verzichten, und die Felder sind weiter weg. Auch die Niederschläge im Sommer kommen mit dem Klimawandel vermehrt von der Adria. Wir haben maximal Probleme mit Schnecken, aber keine Dürren im Sommer.
      Liebe Grüße, Richard

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      1. Meine Beobachtung besagt nicht, dass sie weniger erfolgreich brüten Richard.Die Blaumeise brütet in ein und der selben Kiste zwei mal im Jahr. Der Aufwand für die Beschaffung von Futter wird nur schwieriger . Sie brauchen nur viel mehr Zeit um ihre Jungen zu versorgen . Ich will hoffen das sich diese Intervall noch mehr vergrößern und sie letztendlich überhaupt kein Futter mehr finden . Ich habe diese Rückkehrzeiten regelrecht mit der Stoppuhr überprüft und aufgelistet . Ich werde es auch in diesem Jahr weiterführen.
        Liebe Grüße und einen guten Start in die neue Woche.
        Werner

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